Wolf Vostell

zum 75. Geburtstag
14.09.2007 bis 25.10.2007


 

Wolf Vostell im Gespräch mit Manfred Chobot
          
CHOBOT: Wolf Vostell, ein Künstler, dessen Name besonders mit Fluxus, Happening, Aktionskunst verbunden ist, Fluxus und Happening haben in den sechziger Jahren getrachtet, den Kunstbegriff zu verändern, zu erweitern, aus der Enge des Malerischen, des Tafelbildes, der Graphik herauszukommen. Wie kam es dazu? Wie entstand Fluxus, wie entstand Happening? Wie entwickelte sich diese Kunstrichtung und was versteht man genau darunter?
VOSTELL: Mir war sehr früh bewußt, daß im Grunde jeder Künstler den Kunstbegriff ändern will, das wäre nicht das Neue gewesen. Was auf der Hand lag, und was mich heute noch interessiert, ist, den Lebensbegriff zu ändern. Durch Kunst den Lebensbegriff ändern und zugleich erweitern. Wenn das Leben durch Kunst gestaltet wird, wird automatisch der Kunstbegriff erweitert. Das Happening ist extrem gestaltetes Leben, vom Künstler gestaltetes Leben, mit Beteiligung und - ganz besonders - mit Aufführungsverantwortung der Mitmachenden. Ein Happening ohne mitmachende Verantwortung von Mitspielern wäre Performance oder Aktionismus. Aber das Happeninq, so wie Allen Kaprow und ich das der sechziger Jahre für uns definiert haben, war und ist noch immer die Mitverantwortung bei der Ausführung des szenischen Kunstwerks durch mehrere.
Das amerikanische Happening von Allen Kaprow, Claes Oldenburg und anderen hat in den Galerien ihren Anfang gehabt, also szenische Environments in Galerieräumen. Während mein erstes Happening ganz bewußt auf der Straße mit Zufallspublikum stattfand, 1958 in Paris. Es hieß 'Das Theater ist auf der Straße'. Das war natürlich am Anfang schüchtern, etwa Plakate abzureißen. Wenn man zum Beispiel beim Abriß des Plakates eine Weinflasche sah, sollte man Wein kaufen und ihn sofort trinken, war die Weinflasche halb zerrissen, sollte man auch die Flasche zerstören oder halb zerstören, kam eine Zigarettenreklame, sollte man rauchen und so weiter. Also zerrissene Plakate, decollagierte Plakate, als Partituren für Aufführende.
Fluxus kam später, wurde als Name begründet von George Macunias in New York. Macunias, mit dem wir seit 1961 in Kontakt standen, kam 1962 nach Köln. Mit diesem Wort Fluxus stellte sich aber zunächst eine weitschweifige Konzertreihe neuer Musik vor, wie sich dann allmählich herauskristallisierte aufgrund der anwesenden anderen Künstler, nämlich Nam June Paik, Benjamin Patterson, Emmet Williams, meiner Wenigkeit, wobei man anstatt noch Stockhausen, Kagel, John Cage und andere miteinzubeziehen eine Reihe Aktionsmusik machte, die aber mit dem Happening nichts zu tun hatte. Das heißt, bildende Künstler oder Schriftsteller machen Aktionsmusik mit Gegenständen und Geräuschen und dem menschlichen Körper vor Publikum.
CHOBOT: Happening ist eine Art Theater im Freien. Oder ist es durch die Verquickung zweier Medien im Sinne Marshall McLuhans eine neue Form, eine Mischform?
VOSTELL: Im weitesten Sinn ist es Spiel. Die Freiheit besteht darin, daß eine Idee diskutiert oder durch ein Überraschungselement vorausgegeben wird und auf dieser Ebene die Mitspieler die Sache ausführen. Wenn jemand sagt: Warum gibt es keine Elefanten? Ich will Elefanten. Und er dann - weil es keine Elefanten gibt - das Happening als unfrei beschreibt, fällt das nicht unter den Rahmen des Happenings. Das Happening ist ein Agreement zwischen Künstler und den Mitmachenden, eine gewisse Idee auszuführen, wobei es keine Probe gibt und keine Diktatur wie beim Theater, keinen Regisseur, der sagt, das hast du besser oder schlechter gemacht, oder wir müssen es wiederholen. Also kein Streß in der Ausführung, sondern die Idee beinhaltet schon die Ausführung. Beispielsweise mein Ulmer Happening: Eine Szene mit reduzierten Mitteln, ein paar hundert Leute kamen mit dem Autobus in einem Kloster an. Das Kloster liegt im Dunkeln, es ist riesig, es liegen Holzscheite da, Holzstücke. Jeder vom Publikum nimmt sich ein Holzstück und geht an der Peripherie des Klosterinnenhofes vorbei, klopft beim Gehen durch den Innenhof in einen Takt, den er selbst bestimmt, an die Mauer. Wenn das zweihundert Leute tun, ergibt das ein Klopfkonzert. Im Halbdunkel hat das sehr dramatische akustische Elemente. Und wenn es vorbei ist, dann ist es vorbei. Es gibt keine Kritik wie beim Theater. Niemand sagt, der hat gut geklopft oder der hat schlecht geklopft oder der hätte mehr klopfen müssen. Es ist so, wie es ist. Zwanzig Minuten in der Geschichte, während der zweihundert Leute an barocke Wände geklopft haben.
CHOBOT: Das Happening begann 1958 in Paris. Könnte, man sagen, es ist eine Art Vorläufer des Mai 68, eine Vorwegnahme? Oder ist der Mai 68 eine Bewegung, die auch Ideen und Einflüsse vom Happening aufgenommen hat?
VOSTELL: Ich glaube, es ist sowohl das eine als auch das andere. Meine Generation, wenige Künstler natürlich, haben sich an der Philosophie der Frankfurter Schule orientiert, was auch einen Einfluß auf die Studentenrebellion hatte. Das Happening liegt zehn Jahre und Fluxus etwa sechs Jahre vor dem Mai 68. Die Studenten hatten keine Kenntnis vom Aktionismus in der westlichen Welt. Ihre Ideen hatten mit einem künstlerischen Anspruch nichts zu tun, mehr mit Spontaneität. Bei René Block, der damals schon eine bekannte Galerie in Berlin besaß, hatte ich eine Tapete herausgeben, richtig gedruckt auf Tapetenpapier, eine ganze Auflage. Diese Rolle zeigte im Fortdruck ein Motiv, auf dem - ein berühmtes Foto aus dem 'Stern' - eine Studentin, blutüberströmt, von einem Polizisten geschlagen wird. Ich dachte mir, das sei eine Ikonographie, die würden die rebellischen Studenten schon verstehen. Wir hatten deswegen Kontakt gesucht mir Kunzelmann oder Teufel, um denen die Tapete zu verkaufen und der Kommune 1 in Berlin ein Zimmer damit zu tapezieren. Das schlug fehl. Sie bestellten nur eine Rolle und interessierten sich sonst nicht dafür, weil denen diese Ironie nicht weiterhalf und nicht deren Ironie war. Sie wollten nicht in einem Zimmer leben, an dessen Wänden sie das hatten, was mit ihnen an Ungerechtigkeit passierte - nämlich Polizeigewalt. Da hatten wir gemerkt, die haben keinen Sinn für bildnerische Ironie. Sie hegten ihre eigene Ignoranz gegenüber der künstlerischen Avantgarde - nämlich Unverständnis. Das besteht auch heute noch in Deutschland und reicht von den Alternativen bis zur Chaotenszene. Sie fühlen sich wohl, so wie sie sind. Einen Einfluß aus der bildenden Kunst haben sie nicht nötig.
CHOBOT: Mir erschienen die Auftritte der Kommunarden damals vor Gericht als eine Art Happening. Als der Vorsitzende sagte: 'Stehen Sie auf." Und der angeklagte Kommunarde entgegnete: 'Wenn es der Rechtsfindung dient.' Dann stand er auf. Das kam mir immer sehr wesensverwandt mit einem Happening vor.
VOSTELL: Meiner Meinung nach war es mehr eine Umfunktionierung von traditionellen Rechtsformen oder Verhaltensweisen vor Gericht, Grenzdurchbrechungen, die auf ein dadaistisches, literarisches Verhalten zurückgingen. Denn es war bloß ein Dialog zwischen Richter und Angeklagtem. Beim Happening würde mehr passieren. Die Presse hat das zwar als Happening betrachtet, ebenso verschiedene politische Manifestationen. In Wahrheit ist es so: Wenn jemand 1930 ein quadratisches Fenster baute, sagten alle: Das ist Bauhaus. Derjenige hatte mit dem Bauhaus aber nichts zu tun, kannte die Theorien des Bauhauses gar nicht. Das würde ich demnach vorsichtiger beurteilen. Im Ganzen muß man sehen, daß in den sechziger Jahren - wie auch heute - viele Parallelströmungen existierten und daß die Künstler sich zur Hälfte mit sich selbst beschäftigten. Das Unverständnis, das die Masse gegenüber der Moderne hat, liegt darin, daß sie nicht verstehen kann, daß sich die Kunst mit sich selbst beschäftigt, konzeptuell und wertmäßig. Zum Teil bezieht sie sich auf die Vorfahren, bezieht sich auf das, was vor ihr gemacht wurde. Die Provokation gilt dem vorher Gemachten - das ist ein interner Dialog, der weitergeht und schon seit Jahrhunderten in der Kunst existiert. Darüber wird nie gesprochen, jedoch das ist ein Faktum, warum es in der Kunst immer weitergeht, wie es auch in der Industrie weitergeht. Ob es hingegen in anderen Dingen weitergeht, etwa in der Gesellschaft, bezweifle ich. Indes in der Technik, in der Wissenschaft und der Kunst geht es immer weiter, weil sich diese Gebiete mit sich selbst beschäftigen.
CHOBOT: Es wird immer wieder darüber gestritten beziehungsweise diskutiert, ob Das Happening eine politische oder eine unpolitische Äußerung ist.
VOSTELL: Die guten Dinge sind immer komplex. Warum sollte Happening nur dies oder nur das sein? Das Happening ist kreiertes Leben für zwei Stunden, für eine Stunde oder für den ganzen Tag oder für 16 Stunden, und es ist von jemandem als Idee initiiert. Meine Happenings unterscheiden sich sehr stark vom Wiener Aktionismus, indem sie am Ort ihres Geschehens stattfinden. Wenn ich ein Konzert mit Flugzeugen machen will, stelle ich nicht das Flugzeug auf die Bühne im Unterschied zu Beuys, der nie Happening gemacht hat, sondern künstlerischen Aktionismus oder aktionistisches Theater. Beuys stellte ein Pferd auf die Bühne und die Leute saßen bequem im Sessel und sahen, was er da mit dem Pferd machte. Eine Szene von mir, ein akustisches Stück mit drei Düsenjägern, dauert zwölf Minuten, und die Leute sitzen nicht vor mir auf Stühlen, sondern haben die hautnahe Erfahrung von Klang, einem Klang, der so stark ist, daß man sich sogar die Position, wo man steht, aussuchen kann, wodurch der Klang, das Geräusch , verändert wird. Das ergibt keinen Geräuschbrei aus dem Lautsprecher, sondern den Lärm einer Flugzeugdüse. Man erlebt im Ohr und am ganzen Körper die Vibration des Klanges. Das ist ein wesentlicher Unterschied. - Also ein Happeningkonzert. Alles andere ist traditionelles Theater auf der Bühne erweitert durch Tiere oder ähnliches.
CHOBOT: Wie sieht das Verhältnis von Happening zum Wiener Aktionismus aus? Wenn man über Aktionismus spricht, fällt vielen - insbesondere in Wien - dazu ein, das sind die 'Uniferkel', und es herrscht - bei einem großen Teil der Bevölkerung - eine spontane Ablehnung, man nimmt die Leute nicht ernst, sondern wirft ihnen pathologische Zustände vor.
VOSTELL: Diese Vorwürfe kommen durch die Verwendung des Materials. Das Material des Wiener Aktionismus ist einseitig 20. Jahrhundert, nämlich Blut und Fleisch. Das ist auch legitim, weil die Massaker im 20. Jahrhundert eben Blut und Fleisch waren an Menschen. Diese Taten wurden aber nicht von Künstlern begangen. Wenn sie im Aktionismus diese Materialien verwenden, zeigen sie auf diese Wunde, die verschiedene politische Systeme im 20. Jahrhundert verursacht haben. Der Einsatz von Blut und Fleisch bei Herrmann Nitsch ist demnach konsequent. Nitsch hat das auch am besten untermauert. Was mich weniger interessiert, ist, daß er zweihundert oder dreihundert Mal die gleichen Sachen macht. Darin unterscheidet sich das Happening vom Aktionismus, denn beim Happening muß - oder soll - es immer eine andere Idee sein. Es kann zwar eine ähnliche Form haben, jedoch in jedem Happening Fleisch und Blut zu verwenden, ist langweilig. Das wäre als würde ein Maler immer dasselbe Bild malen. Insofern ist der Wiener Aktionismus ein Spezifikum, das anders diskutiert werden muß. Darf ich eine Anekdote erzählen: Nitsch war Mitte der sechziger Jahre bei mir in Köln, und ich war immer dagegen, daß der Wiener Aktionismus in der Nähe des Happenings figuriert oder in der Nahe von Fluxus, was allerdings passiert ist. An der ersten großen Fluxus- - und Happening- - Retrospektive 1970 war der Wiener Aktionismus voll beteiligt. Daher die Konfusion. Ich hätte dem Wiener Aktionismus damals schon gegönnt, wie es später auch passiert ist, daß er als eigenständige Sache auftritt und sich auf seine eigene Erfindung konzentriert. Nitsch meinte damals: Warum bist du dagegen? Ich bin nicht gegen den Wiener Aktionismus, habe ich ihn motiviert und gesagt: Die Ingredienzien sind zu sehr Blut- und Bodenrituale. Dieses Fleisch und Blut und die Wiederholungen. Während die westliche Happeningform Autobahnen, Flugzeuge, Telefone, Fernschreiber, die Medien, Psychologie, Soziologie und all diese Dinge als Elemente nimmt. Das kannte der Wiener Aktionismus nie. Darin liegen die formalen Unterschiede.
CHOBOT: Wenn man den Günter Brus erwähnt, der als letzte Aktion die 'Zerreißprobe' gemacht hat und dann mit dem Aktionismus aufgehört hat, weil der konsequente Einsatz des eigenen Körpers nur im Selbstmord enden kann.
VOSTELL: Brus ist ganz archetypischer Wiener Aktionismus. Er beschäftigt sich mit seinem Körper, aber nicht mit dem Körper von anderen, deshalb sind seine Aktionen nicht dem Happening zugehörig. Sein Aktionismus wird bis an eine Grenze ausgespielt - dann geht es nicht weiter. Das Happening hat mehr Möglichkeiten. Bei mir hat sich das so verlagert, daß ich große Musik - Environments mache, wie etwa vor zwei Jahren 'Le Cri' in Paris, die happeningähnlichen Charakter haben, aber keine Happenings sind, weil das Publikum nicht spontan mitmachen kann. Allerdings ist es so, daß zumindest 200 Leute, die sich melden, teilnehmen können. Das Ganze könnte auch stattfinden, ohne daß Leute zuhören. Es ist eine Mischform. Oder zum Beispiel das Happening 1988 in Berlin, 'Das Frühstück des Leonardo da Vinci', da war niemand anwesend, der sich nicht beteiligt, der nicht eine ausführende Aufgabe gehabt hat. Vom offenen Happening, etwa meinem ersten, wo ich sogar Leute auf der Straße in Paris angesprochen habe, ob sie nicht mitmachen wollen, bin ich abgekommen und zu geschlossenen Happenings gelangt. Ich bestimme 50, 100 oder 200 Leute. Man bespricht die Sache und führt sie dann aus.
CHOBOT: Also doch eine Art mehr oder weniger spontanes Theater?
VOSTELL: Theater nicht, weil die Ingredienzien des Theaters fehlen. Es sind keine Dekorationen da, keine Beleuchter, keine Regisseure, es ist alles ganz natürlich. Man bespricht eine Idee und führt sie aus. Einmal und nicht wieder, und das war es dann. Ohne Wiederholung. Man muß nämlich bedenken, daß das Happening von der bildenden Kunst kommt. Zuerst war da Jackson Pollock, der in die Malerei hineinsprang und auf dem Bild herumlief und malte. Dann kam der Raum hinzu, indem die Leinwand, die auf der Erde lag, über alle Wände ging, wodurch ein Raum existierte. Später Environments als gestalteter Raum, ein Rückgriff auf Kurt Schwitters, die Merzbühne, auf den Schwittersraum in Hannover, das ist der total gestaltete Raum. Wenn Künstler Zeit benutzen, komponieren sie, wenn sie Akustik und Musik benutzen, Geräusche usw., dann entsteht etwas Multimediales, eine Mischform aus Objekten, ausgestaltetem Raum und - vor allem beim Happening - aus menschlichen Verhaltensweisen. Also menschliches Sein als Kompositionsgrundlage. Man kann mit Tönen etwas machen, mit Objekten, aber auch mit menschlichem Handeln komponieren, das reduziert, konzeptuell oder sehr komplex sein kann. Ein Beispiel einer reduzierten Form war mein Happening in Amerika, wo die Idee war, man öffne den Deckel eines Kofferraums 750 Mal und lege einen Teller hinein und nehme den Teller 750 Mal wieder heraus. Wenn das einer macht, ist das schon in Ordnung. Aber wenn es plötzlich 100 machen, dann existiert eine Dynamik, eine Intervollsituation, eine visuelle Situation, die einmalig ist. Das hat mit Theater nichts zu tun, das ist bildnerisches Sein, bildnerisches Verhalten. Das ist skulpturell, akustisch, psychologisch, physiologisch, es kann dabei regnen, dann ist es anders, es kann 40 Grad Hitze haben, dann ist es wieder anders. Also das hat mit Theater nichts zu tun.
CHOBOT: Eine wichtige Rolle spielt immer wieder das Auto, der Fernsehapparat.
VOSTELL: Ja, und zwar schon sehr früh. Anstatt Farbtuben zu benützen, habe ich Dinge aus der Reizüberflutung, aus der Konsumgesellschaft genommen. Denn das waren die Orte des Geschehens, Amerika oder die Bundesrepublik, die heute an Reizüberflutung das Material bieten. Vor allem ist interessant, daß wir schon in den sechziger Jahren Autostaus gehabt haben von 80 Kilometern, und dann siehst du vor dir 80 Kilometer rote Lichter und auf der anderen Seite 80 Kilometer weiße Lichter. Das ist persönlich nichts gegen Sprachtheater, in diesem Bereich hat das Theater sogar eine große Funktion auch heute noch. Was das Bühnenbild, den visuellen Impact anbelangt, sehe ich lieber eine authentische Mozartoper in ihren Kostümen und weiß dann, welches Verständnis sie damals von sich selbst hatten. Statt einer modernisierten Mozartoper ist mir die Autobahn allemal lieber.
CHOBOT: Eine deiner bekanntesten Skulpturen ist der 'Ruhende Verkehr' in Köln , ein einbetonierter Opel, jedoch du hast mehrere Autoskulpturen gemacht.
VOSTELL: Nach Köln kam ein Cadillac in Beton in Chicago, dann 1976 die spanische Plastik in der Extremadura. Die zwei liegenden Cadillacs in Berlin entstanden etwas später, nämlich 1987, und schließlich die Berliner als vierte Autoskulptur.
CHOBOT: Das Auto als Fetisch des 20. Jahrhunderts wird, indem es in Beton eingegossen ist, außer Betrieb gesetzt. Die Berliner Autoskulptur ist demnach eine der umstrittensten, weil sie genau am Rathenauplatz steht und heftiger Verkehr rundherum stattfindet. Das heißt, der Fetisch Auto ist so am augenscheinlichsten ad absurdum geführt worden.
VOSTELL: Ich zeige aber auch mit der Skulptur etwas, das eintreten wird: Auto fahren wird immer schwieriger und wahrscheinlich immer unmöglicher werden. Durch die Verwendung von Cadillacs verweise ich auf das Ende der Hochkultur, die ich nicht einmal so will. Ich demonstriere mit der Skulptur eine Mumifizierung - statt Beton muß man einmal das Wort Mumifizierung gebrauchen. Ich mumifiziere einen Zustand, der einmal war, ein Objekt, das zur zivilisatorischen Hochkultur gehörte. Ich beschreibe das Phänomen mittels der Plastik, und die Plastik wäre nichts wert, wären es nicht echte Cadillacs. Denn ich mache keine Betonplastiken, es gibt andere Plastiker, wie Chillida, ein spanischer Bildhauer, den ich sehr schätze, der nur Betonplastiken macht, großzügige Formen; meine Plastiken sind hingegen wie Apfelstrudel. Stell dir einmal einen Strudel vor ohne Äpfel drin, das ist nur Mehl, also nur Teig. Bei mir ist immer etwas Dialektisches enthalten, bei einem einbetonierten Fernseher ist die Industriekultur 'Fernseher' drin, und in der Autoplastik ist es das Auto. Wer im Auto nur Blech sieht, sieht nicht die Arbeit, die Kultur, die Ingenieurkultur, den Schweiß, die da drinnenstecken. Ist doch jedes Stück fabriziert worden, es ist nicht bloß verrostetes Eisen, das wäre vordergründig. Es erscheint mir wichtig, mit allen Ingredienzien, mit dem Motor und allen Bestandteilen, ein Stück Industriekultur zu mumifizieren.
CHOBOT: Es trifft offenbar beim Publikum einen wunden Punkt, weil gerade über die Autoverletzungen bei den Happenings die meiste Empörung herrscht.
VOSTELL: Das wäre so, als würde man bei Goya oder Picasso behaupten, weil sie brutale Bilder malten, weil sie die Schrecken des Krieges sahen, seien sie für den Krieg oder hätten Schuld, daß es Kriege gibt. Der Künstler ist doch bloß Dokumentarist, der etwas macht, das natürlich nach vielen Seiten interpretierbar ist. Wir reden aber über Kunst, und Kunst darf nicht festgelegt sein. Es muß ein ständiges Pro und Kontra geben über die Jahrhunderte hinweg, denn nur dann kommt Wirkung aus einer Plastik oder aus Bildern. Mich interessieren die Hauptphänomene des 20. Jahrhunderts, die zweite Hälfte, in der ich lebe, diese will ich manifestieren.
CHOBOT: Worauf ich hinaus wollte: Deine Arbeit ist eine sehr politische. Versucht sie mehr politische oder mehr allgemeine Lebensweisen zu vermitteln?
VOSTELL: Es ist eher eine psychologische Skulptur, weil man mit Psychologie an die Entschlüssellung herangehen muß.
CHOBOT: Es gibt ein Zitat, das da heißt: 'Ich will zur Humanisierung und Qualifizierung des Lebens in meiner Epoche beitragen durch die Erhebung von scheinbar unwichtigen Tatsachen und Verhaltensweisen zu beachtenswerten Vorgängen. Mein Beitrag kann über das rein Refrektorische hinaus ein Handlungsmodell für den Alltag werden. Kunst kann Moral sein.' Das würde mich interessieren, wie ist das zu verstehen. Wie kann Kunst Moral sein? Wo liegt die Moral? In welcher Art kann Kunst dem Betrachter Moral vermitteln?
VOSTELL: Durch die aufklärenden Elemente, die eine Skulptur ausstrahlt, und durch die Toleranz, die sie von dir abverlangt. Das ist keine Form von ethischem Verhalten, eine Skulptur verlangt mehr. Sie fordert, ohne daß der Künstler dies vorhersehen kann. Man kann etwas wollen, aber ob es kommt, weiß man selbst nicht. Es gibt eine Verhaltensweise, die ganz neu ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nämlich daß die wirkliche Avantgarde bloß durch ihre Existenz das Publikum herausfordert, sich selbst darzustellen. Hauptsächlich das Massenpublikum gibt Kommentare ab und entleert sich, positiv oder negativ, meistens negativ, obwohl die Plastik das gar nicht verlangt. Sollte sie es doch verlangen, gibt das Publikum über Gebühr und stellt selbst seinen seelischen Zustand dar. Ist dieser Zustand vorwiegend verleumderisch, so ist das nicht das Problem des Künstlers. Durch seine Arbeit hat der Künstler diese Reaktion herausgelockt. Darin liegt die Kraft des Künstlers, daß Millionen sich zu einem Kommentar bemüßigt fühlen, während sie sonst zu kulturellen Veranstaltungen gehen und nichts sagen, sondern alles schlucken, gibt es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Kunstwerke, auch Theaterstücke - wenige zwar, aber trotzdem welche die das bewirken. Der Unterschied dabei ist, bei Handke kannst du die Publikumsbeschimpfung lesen, du kannst dich gut anziehen, Champagner trinken, dich in die erste Reihe setzen, und du weißt genau, was kommt. Keiner schimpft mehr, denn das Theaterstück ist richtig gedruckt schon im Handel zu haben. Hingegen bei Kunstwerken ist die Überraschungswirkung so immens, daß sie sich ausschütten, Nerven und Form verlieren, sogar intolerant werden, weil man von ihnen verlangt, daß sie an sich selbst arbeiten müssen. Jetzt müssen sie das durch Kunst, durch eine Plastik, ausgelöste Seelengewitter wieder ins Reine bringen. Manche tun das nicht, manche lernen durch die Kunst und übernehmen neue Verhaltensweisen von Toleranz aus dem Umgang mit Kunst für ihr Leben. Andere verändern sich nicht. Durch den Umgang mit zeitgenössischen Kunstwerken lernen sich die Menschen selbst kennen.
CHOBOT: Könnte man sagen, es entsteht dadurch eine Kluft zwischen den Menschen, zwischen den einen, die Kunst weitergehen, sich weiterentwickeln...
VOSTELL: ... und den anderen, die noch schlimmer werden als vorher, noch intoleranter. Einige werden durch Kunst toleranter, andere werden weniger tolerant.
CHOBOT: Das heißt, die Kunst teilt die Bevölkerung zwei Teile, spaltet sie auf.
VOSTELL: In mindestens zwei Teile, und zwar bloß durch ihre Existenz. Gäbe es die Kunst oder bestimmte Kunstwerke nicht, würde man darüber nicht diskutieren. Das heißt, erst durch die Existenz gewisser Kunstwerke, die diese Fähigkeit besitzen, um diese Frage aufzuwirbeln kommt eine Teilung zustande. Davon abgesehen ist Problem mit der Kunst im 20. Jahrhundert, daß die Masse noch immer nicht weiß, was modern ist. Sie partizipiert von Kliniken, kauft sich Autos, Radios und Fernseher, doch das allein ist nicht Modernität. Es gibt ein freies Denken, ein freies Verhalten, und es gibt das, was man Modernität nennt. Das ist eigentlich die Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Sie ist im Osten, ebenso wie in der Zeit des Dritten Reiches als entartete Kunst verfolgt worden, weil man diese Modernität nicht akzeptieren wollte. Es kann wohl nicht daran liegen, daß der eine Quadrate malt und der andere einen Baum, so wie er ist. Was dahintersteckt, ist die Modernität. Darin liegt das Problem, wohin die Reise führt. Um Kapitalismus oder Kommunismus geht es schon lange nicht mehr, vielmehr geht es um den Kulturmenschen und um den Gewaltmenschen. Der Kulturmensch hat Ekel davor, Gewalt anzuwenden oder Gewalt anzuschauen. Er ist sich bewußt, daß das Leben ekelhaft ist, wenn man sich die Hände beschmutzt, wenn man an Massakern oder Kriegen teilnimmt. Zumindest seit 500 Jahren, wenn nicht sogar seit den Höhlenmalereien von Altamira, hat die Kunstgeschichte an jeder Ecke Spuren sublimer Erkenntnisse von Freude, von Formen, von Musik und von Materialien hinterlassen, womit man sein Leben verbringen kann. Der Gewaltmensch glaubt an Gewalt und praktiziert sie auch. Deshalb muß es so viel Kunst und Kultur geben, wie nur möglich. Vor allen Dingen plädiere ich dafür, daß Künstler mit Mut arbeiten, daß mutige Kunstwerke entstehen, die in ihrem Mut oder Übermut eben Freiheit darstellen. Ein mutiges Kunstwerk ist eine Demonstration von Freiheit, ein Modell, das man nutzen kann oder nicht. Wie Aspirin. Man kann Aspirin schlucken oder es nicht schlucken. Aber danach zu fragen, wer war der Erfinder, der Aspirin entdeckt hat, oder was ist da alles drinnen, das führt zu nichts. Man schluckt es oder man läßt es bleiben. Das heißt jeder muß die Materialien der Welt nehmen, die er vorfindet und dafür eine Selbstverantwortung übernehmen. Die Moral aus der Geschichte ist, daß man durch Kunst lernen kann, sein Leben zu gestalten, als sei das Leben ein Kunstwerk. Daher sage ich nicht wie Beuys, jeder Mensch ist ein Künstler, sondern ich sage, jeder Mensch ist ein Kunstwerk. Er kann zum Kunstwerk werden, wenn er sich ähnlich strukturiert wie ein Meisterwerk. Anstatt für andere zu arbeiten, geht die Reise dahin, daß das Leben danach strebt, immer mehr zu lernen und an sich zu arbeiten. Es gilt, das kurze Stück, das man auf der Welt ist, selbst zu formen, es zu gestalten unter Anspruchnahme all dieser Fundstücke, all dieser Errungenschaften, die zur Verfügung stehen. Wenn ich sage, Kunst ist Leben, oder Kunst kann Leben sein, oder Leben kann Kunst sein, dann klammere ich natürlich Dinge aus, die auf die Eliminierung des Lebens ausgerichtet sind. Die interessieren mich nicht, denn wir reden ja über das Leben. Daher interessieren mich als Künstler alle Dinge, die das Leben beschreiben, das Leben verfeinern oder das Leben aufklären, hingegen nicht Dinge, die das Leben beenden.
CHOBOT: Welche Funktion hat der Künstler in der Gesellschaft? Wenn jeder Mensch sein Leben als Kunstwerk gestaltet, wie macht das der Künstler? Worin unterscheidet er sich? Oder unterscheidet er sich nicht?
VOSTELL: Das wäre ungefähr dasselbe, würde man sagen, jeder Mensch ist ein Künstler. Nehmen wir mal an, das sei richtig, dann ist das Problem damit nicht gelöst. Dann gibt es immer noch 40 Menschen auf der ganzen Welt, die größere Künstler sind, denn sie haben ein Werk hinterlassen. Die anderen fühlen sich nur als Künstler, aber diese 40 haben eben ein extraordinäres Werk geschaffen - in jedem Jahrhundert leben solche Menschen. Und so ist es auch, wenn jeder Mensch ein Kunstwerk ist. Es gibt verfeinerte Formen und andere, die sind trivialer, das ist ein Idealzustand, der angestrebt werden muß, und der Weg dorthin, das ist das Leben. Diesen Anspruch zu haben oder zu versuchen, diesem Anspruch gerecht zu werden, das ist das Wichtige. Das Ziel, das man sich setzt, formt das Nervensystem. Kunst ist nichts anderes als eine Möglichkeit der Inspiration für das Nervensystem. Das Zentralnervensystem bestimmt, wie man sich fühlt, gegen Krankheiten kann man natürlich nichts machen, aber wenn man gesund ist, sind das die Einflüsse, die Verarbeitung der Einflüsse auf das zentrale Nervensystem, und es kommt darauf an, was man daraus macht als Mensch. Ich gestehe ein, daß sehr viel in der heutigen Kunst Selbsthypnose ist und daß über die fehlende Qualitätsorientierung, daß sich viele gerne selbst suggerieren, das ist für mich das Wichtigste, das Größte. Das gibt es natürlich, das hat es immer gegeben. Das ist aber nicht das Problem. Das Problem ist: Gibt es über die kommerzialisierbare Kunst, über das verkäufliche Stück hinaus, einen Anspruch der bildenden Kunst, der philosophisch weittragend ist und eine starke Aura hat? Ich glaube, daß es das gibt. Und zwar ist das gleichzeitig die Spezialität des 20. Jahrhunderts. Ich glaube nicht, daß noch einmal Maler kommen werden, die den Kopf so oder so malen, das ist etwas für Maiereiliebhaber. Aber wenn wir über Kunst reden, gibt es nach Picasso etwas, das man konzeptuelle Kunst nennt, das heißt, mit dem bildnerischen Denken Leben formen, Leben gestalten.
CHOBOT: Du hast einmal gesagt, Kunstwerke sind schön. Es gibt nur schöne, es gibt keine häßlichen Kunstwerke.
VOSTELL: Häßlich für den Menschen sind Dinge, die ihm nach dem Leben trachten. Alles, was das Leben beseitigen will, finde ich häßlich. Innerhalb des Lebens, das positiv ist, kann nichts häßlich sein. Es kann stinken oder faul sein oder morbide oder trocken oder kalt sein, aber ich glaube, das sind ästhetische Mißverständnisse, die aus der bürgerlichen Gesellschaft kommen, die auch ihren Kindern vormacht, der Hund ist wunderbar, und deswegen wird er gestreichelt, das ist ein lieber Hund, der ist schön. Unlängst war in Berlin eine Wespenepidemie, was meinst du, wie die Leute in den Cafés auf die Wespen eingeschlagen haben. Die Wespe kann doch nichts dafür. Sie ist eine Minderheit in der Tierwelt, die dafür bestraft wird, daß sie sticht. Das ist keine Ästhetik, auf der man aufbauen kann, wenn die Leute die großen und die schönen Tiere toll finden, die Insekten dagegen nicht. Oder bei der Olympiade wird der eine mit einer Goldmedaille bewertet und ist nur eine Hundertstelsekunde schneller als der andere. Die Gesellschaft macht sich selbst künstlich irgendwelche Hierarchien, die im Grunde nicht human sind. Eine Olympiade ohne Medaillen wäre viel faszinierender, aber offensichtlich ist alles noch mittelalterlich. Es muß immer mit Preisen, mit Dekorationen einhergehen.
CHOBOT: Vielleicht könen wir noch ein bißchen über Fluxus reden. Es gibt da von Robert Watts ein Zitat: 'Das Wichtigste an Fluxus ist, daß niemand weiß, was es ist'. Und von George Brecht: 'Fluxus versucht, eine Synthese zu sein von allem, was existiert. Auch Fluxus widerspricht sich, schon eine Person widerspricht sich über Fluxus'. Dazu fällt mir ein Vergleich mit Dada ein, wo es vom Dadaismus heißt, 'Dada ist das Ding, das ist und nicht ist und dennoch ist'.
VOSTELL: Der Vergleich mit Dada ist absolut richtig, weil die Fluxus-Künstler ebenso wie die Dadaisten eine Lebensphilosophie kreiert haben als bildende Künstler und zugleich ästhetische Werke hinterlassen haben. Die ästhetischen Werke muß man in der Zeit sehen, sie sind heute weniger revolutionär als damals, ab die Philosophie zum Beispiel die Eiführung der Ironie durch die Berliner Dadaisten in die Kunst, das ist eine ganz große Tat. Das hat es vorher in diesem Maße nicht gegeben, weder in der französischen Kunst noch in der spanischen. Das ist eine deutsche Variante, die Ironie ins Bild eingeführt zu haben, George Grosz und Otto Dix wären da zu nennen.
CHOBOT: Ist Fluxus ironisch?
VOSTELL: Einerseits ist Fluxus eine Lebensphilosophie, eine Weltanschauung, die bei jedem Fluxus-Künstler anders aussehen kann, und andererseits sind es ästhetische Werke von einzelnen Künstlern. Es gibt eine Philosophie Fluxus und ein ästhetisches Werk Fluxus. Gott sei Dank zeichnet sich die Fluxus-Bewegung durch unterschiedliche heterogene Werte aus, wenn du aber bedenkst, daß zum Beispiel Paik und ich als Fluxus-Künstler erstmals in der Welt mit Video angefangen haben, kann man sagen, Video - und Fernsehkunst-Verfremdung kommt aus Fluxus. Weder die Bewegung der Op-Art noch die konstruktivistischen Künstler hat das interessiert. Den Fernseher ins Bild miteinbezogen habe ich, die erste Videokamera hat Paik besessen, wir dind Fluxus-Künstler, wenn wir wollen, wenn wir nicht wollen, sind wir keine. So ähnlich wie Picasso reagiert hat, als man ihn fragte, warum malst du noch mit 60 Jahren kubistisch, das war doch 1909. Da sagte er: 'Ich habe es erfunden, ich mache, was ich will'.
CHOBOT: Kann man für Fluxus ein Zitat von dir einwenden: 'Die Realität übersteigt die Fiktion'?
VOSTELL: In jedem Fall. Denn die Realität ist etwas für sich allein. Man darf sich als Künstler nur an der Realität orientieren. Der berühmte spanische Philosoph Baruch Spinoza hat zum Beispiel gesagt: 'Wenn man das Fenster öffnet und die Wärme der Sonne hereinläßt und spürt, wie das Zimmer gewärmt wird, ist es nicht der Mensch, der das Zimmer gewärmt hat. Aber die Sonne, wer ist die Sonne? Die Sonne ist ein göttliches Prinzip, also etwas, das nicht vom Menschen stammt, hat das Zimmer gewärmt. Die meisten Menschen glauben, sie hätten das Zimmer gewärmt, weil sie das Fenster aufgemacht haben. Sie haben nur einen mechanisch-intelligenten Akt vollbracht, das Fenster zu öffnen. Insofern würde der Mensch besser dran sein, wenn er sich um sich selbst kümmert. Denn der Baum, den wir verehren, verehrt uns überhaupt nicht. Der Baum interessiert sich nicht für Zeichnungen und Bilder von mir, er kümmert sich um seine Existenz, er lebt dahin, und ich kann seinen Schatten genießen, den brauche ich auch nicht so oft, ich kann ihn nicht abmalen, das wäre im heutigen Sinne albern, natürlich, er kann mir Früchte geben, aber im Grunde, um Mensch zu werden, muß ich nicht unbedingt spüren, daß der Baum mich verehrt, was nicht sein kann. Die Berge stehen für sich allein, die interessieren sich nicht für die Kunst des Menschen. Der Mensch hat aber beides: Er kann sich für die Natur interessieren und für alle Vorgänge und für die menschliche Macht. Ich glaube, daß die Künstler Überindividuen geworden sind und daran arbeiten, sich von allem zu lösen durch die Überindividualität, daß das ein Weg ist, um frei zu werden, sich von allem zu trennen, was einem nicht hilft, Mensch zu sein.
CHOBOT: Das Menschlichste im Leben sind der Tod und Erotik. Du hast einmal gesagt, es gibt kein Bild von mir, in dem nicht Erotik und Tod eine Rolle spielen.
VOSTELL: Das trifft zu. Beispielsweise auf Kafkas Boot, das ich jetzt in Wien vorstelle. Aber das soll das Publikum selbst entdecken. Ich glaube, man darf die eigenen Arbeiten nicht überinterpretieren.
CHOBOT: Ich möchte noch einmal zurückkommen auf den Satz: Die Realität übersteigt die Fiktion. Der klingt für mich fast entmutigend, daß der Künstler der großen Macht, der allumfassenden Macht der Realität nicht einmal mit seiner Fiktion beikommt.
VOSTELL: Das ist doch auch gut so. Wenn der Künstler mehr wäre, würde er Macht ausüben, und das darf nicht sein. Der Künstler darf meines Erachtens nur in seiner Kreation Macht haben, nämlich im Sinne von Kraft und Ausstrahlung oder etwas machen, das sich in der ganzen Welt ausprägt. Man kann sagen, Miro hat ein einmaliges Oeuvre, oder Dali oder Picasso haben ein Oeuvre kreiert, das wie ein Weltreich ist. Du triffst es in Tokio, in Singapur, überall. Diese Künstler haben mit ihrer Ästhetik ein Weltreich begründet. Du willst aber auf den Seinszustand zurück. Der Künstler kann nur das nachentdecken oder nacherfinden, was die Welt ihm an Substanz vormacht. Das kann er variieren oder zu einem Neuen zusammensetzen, was ich zum Beispiel versuche. Damit kommen wir wieder zum Happening. Das Happening ist aus Stücken vorgefundenen Lebens, aus vorgefundener Realität zusammengesetzt und kreiert dadurch eine neue Form, einen neuen Inhalt. Ich glaube aber nicht, daß der Künstler, wie du meinst, über der Realität stehen kann, denn er kann das Schicksal nicht bestimmen. Er kann das Schicksal nutzen, er kann versuchen, es für sich zu wenden, es benutzen, es für seine Zwecke ausnutzen. Indes glaube ich, daß es viele Künstler gibt, die sich nicht als absolute Macht sehen. Ohne die Dankbarkeit an eine übergeordnete Schöpferkraft hätte ich nicht den Mut, Künstler zu sein. Man verdankt jedes Werk, alles, was man macht, einer anonynmen Schöpferdynamik, die unbenannt ist, und die von den meisten Gott genannt wird. Ich kenne dieses Gefühl der Dankbarkeit gegenüber einer unbekannten Größe sehr genau, dies ist äußerst wichtig beim Arbeiten, daß man sich da orientiert.
CHOBOT: Wenn ein Pop-Musiker auf einer Bühne steht, und da sind 10.000 Leute, so ist das eine Macht, die er über diese Menschen hat.
VOSTELL: Die Musik, die er macht, besitzt diese Macht, nicht er.
CHOBOT: Über seine Musik vermittelt er Macht. Wenn er sagt, clap your hands, klatschen plötzlich 10.000 Leute.
VOSTELL: Wenn die Musik nicht gut oder nicht stark ist oder nichts zu sagen hat, sind nicht 10.000 Leute da. Es gibt auch Pop- Konzerte, die flau sind. Die Musik muß das gewisse Etwas haben, das Lebenselexier muß überspringen.
CHOBOT: Hat der Künstler nicht gerade beim Happening einen ähnlichen Einfluß, den er geltend macht, sozusagen als Leiter dieser ...
VOSTELL: Ja, aber das wird in Form einer künstlerischen Therapie diskutiert und nie vorgesetzt, das Pop-Konzert ist eben kein Happening. Es hat nur Happening-Charakter. Die einen machen die Musik, wie du sagst, und die anderen klatschen. Das is kein Happening. Wenn alle 10.000 Menschen gleichzeitig Instrumente spielten, dann wäre es ein Happening von 1 0.000 Leuten, die gleichzeitig musizieren. Aber das ist eben nicht der Fall. Die Leute wollen sich der Wirkung, die von vorne kommt, unterordnen. Sie springen hoch oder lachen oder freuen sich oder küssen sich und umarmen sich, was ja erfreulich ist, weil es eine Ausweitung des traditionellen Konzertverhaltens ist, aber die Musik kommt von ganz bestimmten Leuten. Woodstock war kein Happening.
CHOBOT: Und wenn jetzt einige oder ein großer Teil mitmusiziert, wäre es dann ein Fluxus-Konzert?
VOSTELL: Ja, das wäre möglich. Das würde ich als Fluxus-Konzert betrachten.
CHOBOT: Die Pop-Art hat ...
VOSTELL: Es gibt ein sehr schönes Stück von John Cage, das wurde in Berlin aufgeführt gleich nach dem Fall der Mauer, wo so viele Leute, die wollten, gleichzeitig Instrumente spielten. Ich war anwesend und so und so viele Violinen und die spielten, was sie konnten, doch sie haben die Rebellion des Stückes nicht verstanden. Die Mauer war gefallen, aber die Rebellion ist etwas ganz anderes im Kopf - zumal die musikalische. Alle war wohlgeordnet nebeneinander vielleicht 50 Gruppen, die ihre Sachen spielten. Das ist auch eine Form der Selbstdarstellung, eine Form des Mitspiels, des Ausdrucks, das war ein Happening-Konzert und ein Fluxus-Konzert. Also ein ganz großer Freiheitsbegriff, den Cage eingeführt hat. Da kommt es auf das Freiheitsprinzip an, das praktiziert wurde, nicht aut das akustische Resultat. Das akustische Resultat war langweilig. Aber es hätte sehr rebellisch sein können, wenn 100 Leute einfach wild drauflos gespielt hätten, so haben verschiedene Gruppen irgendwelche Melodien gespielt. Also du siehst, es kommt auch drauf an, wie man die Freiheit benutzt.
CHOBOT: Wie wäre das im Vergleich: Es hat auch Pink Floyd 'The Wall' vor der Berliner Mauer gespielt, hatte das eher deiner Definition entsprochen?
VOSTELL: Ich habe das nur im Fernsehen gesehen, und da war es ein großartiges musikalisches Theater. Aber es hat nichts mit Happening zu tun. Das ist eine eigene Konzertform. Die Leute wurden schließlich kontrolliert von den Ordnern, die durften nicht alle aufstehen und weglaufen. Da war alles organisiert. Die Freiheit war nur auf der Bühne.
CHOBOT: Die Pop-Art hat von der Werbung sehr viel übernommen. Mir kommt vor, daß auf der anderen Seite die Werbung Entlehnungen vom Happening nimmt. Wenn überdimensional große Zahnbürsten mit einem Hubschrauber umhergeflogen werden, ist das meines Erachtens eine Anleihe vom Happening.
VOSTELL: Ja, aber nur im Formaspekt. Der Helikopter fliegt mit Zahnbürsten herum, aber man fragt nicht, was dann mit der Zahnbürste geschieht.
CHOBOT: Also nur der formale, nicht der inhaltliche Aspekt stammt aus dem Vokabular des Happenings.
VOSTELL: Ja, denn dahinter liegt kein kritischer Aspekt, den will die Werbung nicht. Es ist auch kein aufklärerischer Prozeß. Ein Happening wäre, würde man in einer berühmten Wiener Straße alle auffordern, sich spontan die Zähne zu putzen. Das würden einige tun, einige nicht. Mit einfachen Mitteln, könnte man da sehen, wie Menschen sind. Auch das Theater nimmt aus der Avantgarde Entlehnungen. Wir sind zu den verschiedenen Orten gegangen, und später kam dann Peter Stein von der Berliner Schaubühne, der hatte auch das Publikum herumgefahren. Das war kein Happening, sondern die Leute mußten nur an verschiedenen Orten seine Theuterinszenierungen sehen. Das ist verpufft, und er hat das nie wieder gemacht.
CHOBOT: Durch die Übernahme der formalen Aspekte von der Werbung und eben nicht der inhaltlichen, kommt es offenbar auch dazu, daß sich niemand aufregt. Keiner schimpft über die Werbung und sagt, also das geht nicht, Leute. Während Happenings oftmals großen Ärger und Unwillen provozieren.
VOSTELL: Auch die Form ist da verharmlost. Etwas anders wäre es, würden 1.000 Helikopter mit 10.000 Zahnbürsten über Wien fliegen. Da wären der Geräuschpegel und die Unfallgefahr ein Problem und die herabhängenden Zahnbürsten, das wäre eine Form, die man diskutieren könnte. Aber ein Helikopter mit einer einzigen Zahnbürste, das ist eben als Werbung verwässert. Formal ist das überhaupt kein Fortschritt.
CHOBOT: Wie sind die Möglichkeiten des Künstlers, wie ist deine Stellung zur Gesellschaft, wie siehst du die Welt? Eher skeptisch, resignativ, oder willst du die Weit chronisch festhalten? Glaubst du, hat der Künstler didaktische Aufgaben? Ist er eine moralische Instanz? Weil andere moralische Instanzen versagt haben? Geht es um die Veränderung oder um das Festhalten des Status quo?
VOSTELL: Ich kann zunächst nur bei mir anfangen. ich bin durch Kunst weitergekommen im Leben. Durch Kunst habe ich die Herrlichkeit der Welt kennengelernt und durch Kunst, durch andere Künstler vor mir habe ich die Gefährlichkeit der Welt entdeckt. Alles, was ich weiß, habe ich durch andere Künstler erfahren. Und irgendwann kommt der Moment, wo man vielleicht fähig ist, diese Tradition weiterzugehen. Das ist schon sehr viel, wenn man erkannt hat, seine Erfahrungen in diesem Sinne wieder zurückzugeben. Das ist das Praktische, woran man sich orientiert. Was ist das nächste Werk, ist es stärker als das vorhergegangene oder sagt es nochmals dasselbe stärker aus, oder ist es stärker als die Werke anderer Künstler um mich herum. Das sind berufsspezifische Probleme, die ebenso menschliche Probleme sind , da sie mit Kraft zu tun haben. Denn der Künstler ist der einzige, der seine Ideen aus sich selbst holen und sie dann vorstellen muß. Das bedeutet ein ständiges Ringen, wie weit gehe ich, was kann ich liefern. Insofern steht dieser Aspekt im Vordergrund. Der Überbau, auf den du hinauswillst, ist, daß ich alles gleichermaßen dokumentieren will in meinem Werk. Die Schönheit des Lebens, die Fragwürdigkeit des Lebens, den Mißbrauch des Lebens, alles, was ich als Mensch sehe, will ich auch in meinem Objekt, das ich Kunstwerk nenne, manifestieren. In jedem Kunstwerk muß man erkennen können, was der Künstler vorhat. Da fließt alles ein, ohne daß man es will. Seine Produkte sind so wie der Künstler, man muß ihn an jedem Werk erkennen können. Ich möchte nicht nur kritische Werke machen, ich möchte auch das Kustobjekt als Fest, als freiheitliches Objekt sehen. Es ist geprägt durch den Individualismus jedes einzelnen Künstlers. Der Künstler ist eine Sonderform, und er ist eben fähig oder nicht fähig, eine Sonderform zu liefern, die es im weitesten Sinn vor ihm und nach ihm nicht gibt, von einer Schule oder einer Gruppe, was natürlich völlig legitim ist, abgesehen. Das hat es bei jedem 'Ismus' im 20. Jahrundert gegeben, ob er russisch, spanisch oder amerikanisch war, wurde daraus eine Weltbewegung. Da ist schon etwas an der Sache dran, das muß raus.
CHOBOT: Du hast gesagt, du vergleichst dich mir anderen Künstlern, vergleichst mit den eigenen Werken und mit den Werken anderen.
VOSTELL: Die Künstler messen sich. Das haben schon Tizian und Rubens gemacht.
CHOBOT: Wir haben vorhin von den Olympischen Spielen gesprochen und über Medaillen, das ist doch ein ähnlicher Zustand. Die Sportler messen sich, wer der beste ist ...
VOSTELL: Das ist eine andere Bewertung. Hier geht es nicht um eine Bewertung, sondern um eine Produktionsbedingung. Ob ein Künstler besser ist als ein anderer, läßt sich nicht so ohne weiteres feststellen. Darum geht es auch gar nicht. Es geht vielmehr darum, daß der Künstler über etwas verfügt, woran er sich anhalten, was er bewundern kann. Kein Mensch - und ein Künstler schon gar nicht - kann ohne Bewunderung für etwas weiterleben oder weitermachen. ich suche mir bewußt Künstler, wo ich empfinde, sie sind stärker als ich, oder ich stelle fest, sie sind schwächer. Das ist ein internes Problem. Was ich am Anfang unseres Gesprächs meinte, war, daß sich die Kunst mit sich selbst beschäftigt. Der jeweilige Künstler bekommt eine Antwort darauf, was vorher dagewesen ist, in dem Sinn, daß im Grunde jeder Künstler von der Kritik befreit ist, denn ein Künstler kann nur durch ein neueres und stärkeres Kunstwerk von einem nachfolgenden oder gleichzeitigen Künstler kritisiert und korrigiert werden. Worte können in der bildenden Kunst leider nichts erreichen. Wir reden zwar jetzt eine Stunde mit Worten, aber letztendlich haben Kunstwerke ihre Ausstrahlung, die eben allein, ohne den Künstler, existieren muß. Der Künstler kann nicht immer neben seinen Werken stehen, die Wirkung muß von den Kunstwerken ausgehen.
CHOBOT: Du hast einmal gesagt, die zukünftigen Museen der Künstler werden Fernsehstationen sein.
VOSTELL: Ich bin jetzt allerdings überzeugt, daß die nächsten Regierungen eher Fernsehstationen nach dem neuesten Stand sein werden. Wenn sich die Politiker alles unter den Nagel reißen, werden sie den Künstlern überhaupt nichts mehr zugestehen und sich alles selbst nehmen. Ich sage voraus, daß die Politiker im Fernsehstudio Politik machen werden oder zumindest, daß der Kabinettsaal ein Fernsehstudio mit allen Schikanen sein wird. Wenn das so weitergeht und Länder oder Städte unregierbar werden, muß stündlich über das Fernsehen das neueste verkündet werden. Die Medien sind die eigentlichen Regierungen der Zukunft.
CHOBOT: Und welche Rolle kommt dann dem Künstler zu?
VOSTELL: Die Künstler müssen kämpfen, daß sie ihre Individualität beibehalten und daß sie - trotz allem - etwas machen, das es sonst nicht auf der Welt gibt. Sie müssen gegen den ganzen Inflationsfluß antreten, sich mit ihren Werken dagegen stellen und durch ihre Werke eine Aussage machen, die anders ist als jene der Massenkommunikation.
CHOBOT: Das bedeutet aber, sie müsen eine Außenseiterposition einnehmen, die anders ist, die sich unterscheidet.
VOSTELL: Nicht die inferiore Außenseiterposition, die beschämend macht, sondern eben die selbstbewußte, die kreative Außenseiterposition, die ganz bewußte Außenseiterposicion gilt es einzunehmen. Wie eine Firma, die ein Medikament erfunden hat, das irgendwann mal alle brauchen werden, eben keine Außenseiterfirma ist. Je mehr Außenseiterposition, desto besser.
CHOBOT: Siehst du den Künstler demnach für die Gesellschaft als eine Art Medikament?
VOSTELL: Nicht unbedingt in jeder Sekunde und nicht obligatorisch. Also von Fall zu Fall.
CHOBOT: Man kann aber nicht ständig Pillen schlucken, da wird man abhängig und süchtig.
VOSTELL: Ich sage auch nicht, daß jeder Künstler das schafft. Picasso hat zum Beispiel gesagt, daß seine Malerei nichts mit Kunst zu tun hat, es ist eine Lebensregel.
CHOBOT: Zum Abschluß: Was ist deine Kunst?
VOSTELL: Ein spanischer, sehr poetischer Satz eines südamerikanischen Liedes lautet: 'Gracias a la vida que me ha dado tanto'. Das heißt auf deutsch: ich danke dem Leben, das mir so viel beschert hat. Bei mir überwiegt das Positive.
Wien, 1992.